miserable.outskirts
[ Frau Hellmann wohnt da. ]
[ Frau Hellmann wohnt da. ]
Late to the party, aber das Stadtbild-Statement des deutschen Kanzlers bewegte sich so dynamisch durch die gesellschaftspolitische Landschaft, dass ich nicht recht hinterherkam. Kaum war mein Grant gedanklich in Worte gefasst, schien er schon überholt und ein anderer Aspekt bedeutsamer. Aber dann las ich gestern, es seien schon mehr als tausend Strafanzeigen gegen Merz1 gestellt worden. Ist das nicht Volksverhetzung?, wurde schon am Beginn der Debatte in meinen Social-Media-Kanälen empört gefragt, und Jurist:innen, die verneinten, kriegten verbale Haue. Zu Unrecht, wie ich als Laiin finde, denn so ein Straftatbestand muss ja doch bestimmte konkrete Merkmale erfüllen, und was wäre denn an dem Statement des Bundeskanzlers konkret gewesen?
„Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem“, hatte er gesagt, was auf alles Mögliche abzielen kann; aber im Satz davor war von Migration und ihrer Begrenzung die Rede, danach von Rückführungen. Das gab einen Kontext vor, blieb aber dennoch vage. Migration. Probleme. Stadtbild. Konkreter wurde das nicht, das war Pudding, sowas können Sie nicht an die Wand nageln.
Was auch gut so ist, wenn Sie mich fragen, ich möchte nicht wegen etwas, das ich mit einer Bemerkung vielleicht gemeint haben könnte, vor Gericht landen. Selbst wenn ich es so gemeint hätte, wie unterstellt – Gedanken sind immer noch zollfrei, und sollten das auch bleiben. Auch jene Gedanken, die im Kopf von Friedrich Merz zum Thema Migration Ringelreihen tanzen. Das geht den Staat und seine Gerichtsbarkeit nichts an.
Die Öffentlichkeit hingegen darf über unscharfe Stadtbilder spekulieren oder auch – nach kleinen Paschas, Zahnarztterminen, Sozialtourismus etc – wenig bis keine Zweifel am gemeinten Sinn des Gesagten haben und es harsch kritisieren. Und es ungustiös finden, dass der Kanzler – der Kanzler –, gefragt, was er konkret gemeint habe, lächelnd mit der Zollfreiheit seiner Gedanken kokettierend, noch ein bisserl mehr andeutet: „Fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte.“
Das war keine Aufforderung, Gewaltschutz und was Frauen dazu zu sagen hätten, interessiert konservative alte Männer weitgehend Nüsse, es sollten nur düstere Bilder entstehen. „Migration. Stadtbild. Probleme. Spätestens mit Einbruch der Dunkelheit.“ Im Brustton der Überzeugung so über Migration, über Migrant:innen zu sprechen, versucht, die Diskussion in ein emotionales Gruselkabinett gefühlter Wahrheiten zu verschieben.
Das erbittert mich wirklich. Erstens überhaupt und zweitens, weil Kanzler. Was für ein Amts-, was für ein Politikverständnis hat so einer, wenn er markig Maßnahmen ankündigt, sie aber nicht konkret begründet, sondern das p.t. Publikum zum Spintisieren anregt? Ich mein, eins ist ja Kummer gewohnt mit politischen Worthülsen und Laberschaum, aber es ist eine Sache, mit Blablub von unschönen Fakten abzulenken, Notwehr quasi; ganz was anderes ist, mit Blablub die Fakten ganz besonders hässlich erscheinen lassen zu wollen, damit Maßnahmen angemessen wirken.
Das verfing da und dort tatsächlich, manche Kritik an dem, was der Kanzler „gemeint haben könnte“, wurde direkt mit einer Art Disclaimer versehen: Migration, Stadtbild, Probleme, gibts natürlich, aber. Einer sprach sogar von Angsträumen; hören die Leute sich eigentlich zu, wenn sie reden, als hätte Pudding einen greifbaren Kern, einen wahren gar? Dass Migrant:innen verantwortlich seien für marode Schulen und Straßen, für bröckelnde Fassaden, hohe Mieten und überfüllte Öffis, für steigende Lebensmittelpreise, Armut, Obdachlosigkeit, geschlossene Schwimmbäder und was sonst noch unangenehm auffällt im Stadtbild: das offenbart sich doch schon bei kurzem Nachdenken als komplett hanebüchen, und erst recht, dass all das sich in Wohlgefallen auflöste, würden nur weniger Fremde ins Land gelassen und mehr von ihnen hinauskomplimentiert.
Klar lässt sich da mit Nicht ganz falsch, aber gegenhalten, aber dann bitte nicht greinen, wenn Teile des Wahlvolks auf den postulierten wahren Kern fokussieren, ihn für sehr bedeutend nehmen und am Ende noch Migration für ein größeres Problem halten als den Klimawandel. Dasselbe in Lila waren die Hinweise darauf, wie unverzichtbar Migrant:innen seien, um das Land und seine Wirtschaft am Laufen zu halten, ich mein, ernsthaft jetzt? Menschen nach ihrem wirtschaftlichen Nutzwert beurteilen?
Allemal, es gab Gegenwind, viel davon, bis hin zu sinkenden Zuneigungswerten für Merz in Umfragen. Es ist mit dem Auseinanderdividieren und Entsolidarisieren doch nicht ganz so einfach, wenn wesentliche Teile der Gesellschaft sich widerborstig zeigen und sich partout nicht an die hässlichen Bilder, von denen ein jugendlicher Kanzler Österreichs mal sprach, gewöhnen wollen.
Denken Sie sich an dieser Stelle einen optimistischen Kalenderspruch, irgendwas mit Hoffnung oder so.
Und dann sehen, hören, lesen Sie aktuelle Nachrichten zB zum Thema syrische Flüchtlinge, die Position des deutschen Außenministers dazu, und was seine Partei davon hält. Oder gucken Sie nach Österreich, wo sich der Innenminister gerade mit Abschiebungen nach Afghanistan brüstet2. Weitere Abschiebungen dorthin seien in Vorbereitung, dafür habe man verhandelt. Mit Taliban-Vertretern. Die finden das nicht mal im Ansatz skandalös, die sind stolz darauf. Von den USA und ICE reden wir erst gar nicht. Hier wie dort wird Migration zunehmend als Nachtmahr – They are eating the cats. Spätestens mit Einbruch der Dunkelheit –, den es abzuschütteln gilt, dargestellt. Hier wie dort gibt es Menschen, die das glauben, gern glauben wollen, weil es einfache Lösungen verspricht und bis dahin ein Ventil für Aggressionen bietet.
Hoffnung? Ich bitte Sie. Aber ein bisschen Widerspenst & Widerspruch wär vielleicht drin, und sei es nur, um sich nicht gar so hilflos zu fühlen. Schlussendlich ist ja der deutsche Kanzler doch zurückgerudert. Also sowas in der Art nur, irgendwie, andeutungsweise, um ein paar Ecken. Aber zurück. Geht doch.