Die Seite 67

Es fehlt mir jegliches Bedürfnis, ein Buch von Richard David Precht zu lesen; seinen Meinungen zu so ziemlich allem, was sich tut, ist ohnedies nicht zu entkommen. Eine dieser Meinungen ist, dass er nicht so reden dürfe, wie er wolle, ohne dafür in eine Ecke gestellt zu werden, mindestens, wenn nicht gar Shitstorms und Cancel Culture dräuen, in der Welt von Richard David Precht gleichzusetzen mit Pogromen und Faschismus1. Oder auch nicht, ich halte den Mann für kein komplettes geistiges Nackerpatzerl, derlei bei einer Buchpräsentation zu äußern, scheint mir mehr analoges Clickbaiting, Grobstrickprovokation für den Verkauf. 

Der Chefredakteur einer Wiener Wochenzeitung kaufte und las, nachdenklich nickend, so stelle ich mir das jedenfalls vor, denn er fotografierte die Seite 672, fast jede einzelne Zeile unterstrichen, und das nicht, um sie kritisch zu zerlegen, sondern: „Das ist nicht falsch, was der Precht da schreibt.“3

Der Chefredakteur ist vergleichsweise jung, die von Precht erwähnten Teestuben der 70er- und 80er-Jahre dürfte er nicht besucht haben; ich auch nicht, also Teestuben schon, aber andere als Precht – wo ich verkehrte, war das Publikum zwar links, meist bekifft und friedlich, aber mit achtsamem Jargon wars trotzdem nicht weit her. In Konflikten nicht laut zu werden, Ich-Botschaften zu senden und was einer sonst noch unter dem Geist der Sozialarbeiter-Epoche verstehen mag, wurde damals durchaus empfohlen, aber nicht in Teestuben, sondern auf den Ratgeberseiten von Frauenzeitschriften, Ehekrach, aber konstruktiv. Ich weiß natürlich nicht, wo die Redakteur:innen das herhatten, vielleicht saßen sie in denselben Teestuben wie Precht. 

Großflächiger wurde inklusive Sprache meiner Wahrnehmung nach ab den späten 90ern diskutiert, mangels Social Media vorwiegend im Feuilleton, und recht manierlich. Klar wurde den Gutmenschen ihre Political Correctness vorgehalten, die wurde aber eher als albern eingestuft und nicht als ein mit Hass und Häme geifernd zu bekämpfender Gottseibeiuns. Wie unter Wahrung korrekter Umgangsformen begründet wurde, warum manchen Menschen oder Gruppen diese Höflichkeit versagt werden sollte, war streckenweise skurril; verdeckte aber ein wenig den Blick, meinen jedenfalls, wie ich beschämt zugeben muss, auf die zugrunde liegende Verachtung der fraglichen Menschen und Gruppen. Die Argumente aus der Grabbelkiste – Ist doch nicht böse gemeint, Tradition, hieß immer schon so, historisch gesehen völlig neutraler Begriff – für N-Wort, Z-Wort & Co schienen mir begreiflich, aber mit ein bisserl Logik und Überzeugungskraft leicht auszuräumen; es brauchte erst die belustigt-paternalistische Ablehnung des Binnen-I, damit mir was dämmerte.

Mag sein, dass ich deshalb etwas gereizt auf die Precht’sche Seite 67 reagiere, wo gleich die ersten zwei Zeilen aus dem vorigen Jahrtausend zu winken scheinen. Jahrzehntelanger Diskurs, und doch alles immer wieder komplett auf Anfang, sobald ein fragiles Alphamännchen-Ego sich subtil unterdrückt fühlt. Andere Menschen in Dampflokmanier als sprachliche Verschubmasse behandeln und greinen, wenns dafür keinen Applaus gibt, ist ja schon dings; aber im selben Aufwaschen der neuen Linken vorzuhalten, ihre sorgsame Sprache schließe Nicht-Sorgsame aus und qualifiziere sie ab – das muss einer erstmal hinkriegen, Ambiguitätstoleranz galore. Dem derben und martialischen Jargon der proletarischen Linken4 nachtrauern, aber schon in leichtem Gegenwind wehleidig lamentieren – das ist wohl nur zu schaffen, wenn mann das Denken vor dem Reden für Zumutung hält:

„Wenn man vor zehn Jahren in eine Talkshow ging, hab ich keine Sekunde darüber nachgedacht, ob ich ein falsches Wort gebrauchen könnte. Wenn ich heute in einer Talkshow bin, weiß ich sehr, sehr genau, bei welchen Themen ich ganz, ganz, ganz, ganz, ganz genau auf die Wortwahl achten muss.“

Könnte sein, Richard David Precht würde sich in Österreich wohlfühlen. Hier, in der kleinen, rustikalen Alpenrepublik gibt es sie nämlich noch: Elementarpädagog:innen in ihrer ursprünglichen Form.

Liste der Amtstitel, Dienstgrade und Verwendungsbezeichnungen aus der Kategorie "Lehr- und Erziehungspersonal" Kindergärtnerin/Kindergärtner Oberkindergärtnerin/Oberkindergärtner Lehrerin/Lehrer Oberlehrerin/Oberlehrer Erzieherin/Erzieher Obererzieherin/Obererzieher Fachlehrerin/Fachlehrer Fachoberlehrerin/Fachoberlehrer Professorin/Professor

  1. Er tat dies auf der Frankfurter Buchmesse bei der Präsentation seines jüngsten Buches, „Angststillstand“, kund: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2025-10/richard-david-precht-angststillstand-video-frankfurter-buchmesse ↩︎
  2. Screenshot des Fotos der Seite 67 aus dem Bluesky-Post von Florian Klenk: https://frauhellmann.at/wp-content/uploads/screenshotseite67.jpg ↩︎
  3. Falter-Chefredakteur Florian Klenk löscht von Zeit zu Zeit all seine Posts, dennoch der Link: https://bsky.app/profile/klenkflorian.bsky.social/post/3m5io2hanvs27 ↩︎
  4. @katquat.at hat in einem Thread auf Bluesky schön aufgedröselt, dass die pauschale Annahme proletarischer Derbsprachigkeit sowieso Quark ist: https://bsky.app/profile/katquat.at/post/3m5lvphni4k2f ↩︎